Wann ist die finanzielle Unabhängigkeit erreicht?
Die Vermögensbilanz alleine reicht nicht, um den Zeitpunkt zu bestimmen. Das Ergebnis des Budgets und die Erwartungen an die Inflation spielen ebenfalls eine große Rolle.
Eine 45-jährige Führungskraft hat in ihrem bisherigen Berufsleben gut verdient und darüber hinaus noch so gut angelegt, dass sie ein – in ihren Augen – nicht unerhebliches Vermögen ansparen konnte. Allerdings hat die Arbeit früher mehr Spaß gemacht: Die Ansprüche und Zwänge sind beim Aufstieg im Konzern über die Jahre nicht weniger geworden. Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken, was „Freiheit“ wirklich bedeutet. Ob unsere Führungskraft jedoch bereits finanziell frei und unabhängig ist, hängt neben der reinen Höhe des Vermögens auch von ihren Ausgaben und den Erträgen des Vermögens ab. Eine vollständige Vermögensbilanz ist dabei ein guter Ausgangspunkt für eine realistische Einschätzung.
Der erste Teil der erforderlichen Daten ist schnell aufgeschrieben: Als liquide Vermögenswerte verfügt die Führungskraft über Gelder auf Konten und in Geldmarktfonds in Höhe von 150.000 Euro. Dazu kommen Edelmetalle im Wert von 100.000 Euro, die auch eine Versicherung für Notfälle jeglicher Art darstellen. Als weiteren liquiden Vermögenswert gibt es ein Depot mit Aktien, im Wert von aktuell 550.000 Euro, und Anleihen in Höhe von 150.000 Euro. Als illiquide Vermögenswerte bilden Rentenversicherungen in Höhe von 100.000 Euro und Immobilien im Wert von geschätzt 2.100.000 Euro den Kern des Vermögens. An Verbindlichkeiten existieren noch Kredite mit einer Restschuld von 1.050.000 Euro.
Bevor jetzt aufsummiert werden kann, sind weitere Positionen zu berücksichtigen: Die Wertpapiere wurden für einen geringeren Preis gekauft als der, zu dem sie aktuell gehandelt werden. Deshalb sind Buchgewinne in Höhe von rund 200.000 Euro in den Werten enthalten, die beim Verkauf zu ungefähr 50.000 Euro Kapitalertragssteuer samt Solidaritätszuschlag führen würden. Diese latenten Steuern müssen berücksichtigt werden, weil sie das Vermögen mindern. Ergänzt wird die Aufstellung außerdem durch Wertgegenstände und langlebige Verbrauchsgüter, die noch ungefähr 100.000 Euro wert sind. Irgendwann müssen diese ersetzt werden und führen dann zu zusätzlichen Ausgaben, weshalb sie nicht vergessen werden dürfen und ebenfalls wichtig für die Vermögensbilanz sind.
Brutto- und Nettovermögen sind nicht alles
Aggregiert ergibt sich schlussendlich ein Bruttovermögen in Höhe von 3.200.000 Euro und ein Nettovermögen in Höhe von 2.150.000 Euro. Der liquide Anteil beträgt dabei 900.000 Euro oder 28% des Bruttovermögens. Diese Zahlen haben jedoch nur eine geringe Aussagekraft, ohne die Einnahmen und Ausgaben zu kennen. Aktuell erzielt die Führungskraft jährlich ein Einkommen von 150.000 Euro netto und gibt etwa 120.000 Euro aus. Damit können aus dem Einkommen 30.000 Euro gespart werden; sämtliche Erträge aus den Kapitalanlagen kommen hinzu.
Aus diesen Einnahmen lässt sich zusätzlich der Wert der Arbeitskraft herleiten, der vom Zeitpunkt des geplanten Renteneintritts abhängt. Arbeitet die Führungskraft bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter von 67 Jahren noch 22 Jahre bei gleichbleibenden Bezügen weiter, beläuft sich der Wert auf 3.300.000 Euro. Möchte sie stattdessen bereits zum 60. Geburtstag in Rente gehen, sinkt der Wert auf 2.250.000 Euro ab. Letztlich ist ein früherer Renteneintritt sehr teuer. Dem gegenüber stehen weitere Rentenansprüche: bis zum 90. Lebensjahr sind das aktuell 150.000 Euro aus der betrieblichen Altersvorsorge und rund 400.000 Euro aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese Werte werden durch weitere Einzahlungen bis zum Renteneintritt steigen, die Betriebsrente auf ungefähr 500.000 Euro und die gesetzliche Rente auf rund 900.000 Euro.
Auf der Ausgabenseite lassen sich die Konsumausgaben berechnen, die bis zum 90. Lebensjahr 5.400.000 Euro betragen. Als Höhe des Vermögens ergibt sich dadurch bei Arbeit bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter unter Berücksichtigung von Nettovermögen, Wert der Arbeitskraft, Rentenansprüchen und prognostizierten Ausgaben ein Wert von 1.450.000 Euro: Damit hätte die Führungskraft ihren Vorsorgebedarf bereits gedeckt.
Das Problem ist Unsicherheit
Bei sofortiger Beendigung der Arbeitstätigkeit entsteht jedoch ein Minus in Höhe von 2.700.000 Euro. Dazu kommen allerdings noch die Erträge aus den Kapitalanlagen. Selbst ein Minus muss also kein Problem sein, wenn die Erträge bis zum Lebensende ausreichen, dieses zu decken. Um den Stand der finanziellen Unabhängigkeit bestimmen zu können, ist deshalb eine Schätzung notwendig.
Während der Ertrag von Geld auf Konten, in Geldmarkt- und Anleihefonds sowie für Immobilien relativ genau kalkuliert werden kann, gilt dies nicht für Aktien und Edelmetalle. Man kann zwar mit durchschnittlichen Werten arbeiten, allerdings sind große Abweichungen davon in einzelnen Jahren möglich. Außerdem führen nicht alle Erträge zu Liquidität, weil beispielsweise die Aktien im Wert steigen oder Rentenversicherungen Erträge ansammeln. Die Kredite kosten sogar Liquidität, weil die Zinsen und die Tilgung regelmäßig gezahlt werden müssen. Die Wertgegenstände kosten zwar nicht direkt Geld, allerdings fallen über die Zeit Ausgaben für Ersatz und Reparatur an.
Mit der geschilderten Vermögensaufteilung hat der Anleger in den letzten Jahren einen Nettoertrag in Höhe von durchschnittlich rund 120.000 Euro pro Jahr erzielt. Das entspricht bei einem Bruttovermögen in Höhe von 3.200.000 Euro einer Vermögensrendite in Höhe von 3,7%. Von der Höhe her betrachtet reichen diese Erträge zur Deckung der Ausgaben, allerdings kommen davon nur gut 40.000 Euro jährlich auf dem Konto an. Die restlichen knapp 80.000 Euro steigern Vermögenswerte und tilgen die Kredite. Um die Ausgaben des täglichen Lebens zu bestreiten, reichen die Kapitalerträge daher nicht aus und es muss Vermögen aus Vermögenswerten entnommen werden.
Am Ende zählt nur die Liquidität
Kommt das benötigte Geld dazu nur aus der Barreserve, ist das kein Problem, weil damit keine Erträge verbunden sind. Sobald jedoch Aktien oder Anleihen aus den liquiden Mitteln verkauft werden, sinken auch die Erträge. Damit beginnt der Verzehr und das Vermögen schrumpft – was kein Problem ist, wenn das Vermögen groß genug ist. Um aber das letztlich zu beurteilen, ist die Höhe der Inflation wichtig, weil durch sie die Ausgaben und der Verzehr steigen. Gerade bei langen Betrachtungszeiträumen reicht dazu bereits eine niedrige Inflation aus.
Da die Inflation letztlich eine unbekannte Größe ist, die jegliche Planung unsicher macht, kann man zwar gewisse Annahmen treffen, sollte allerdings immer einen Puffer vorhalten. Das bedeutet, entweder eine Inflation anzunehmen, die eher zu hoch ist, oder eine realistischere, bei der nach allen Ausgaben noch ein gewisses Vermögen als Puffer übrig bleibt. Welche Variante gewählt wird, spielt keine Rolle. In Anbetracht der Tatsache, dass in 20 Jahren die Handlungsspielräume begrenzt sein werden, macht es sogar Sinn, beide zu kombinieren, um noch mehr Sicherheit zu haben.
In vorliegenden Fall ist das Vermögen ausreichend, um bei einer Inflation in Höhe des Durchschnitts der letzten Jahre noch mit ausreichend Puffer 90 Jahre alt werden zu können, ohne die Ausgaben einschränken zu müssen. Vor allen Dingen, da die Vermögensaufteilung recht gut gegen Inflation schützt, so dass die persönliche Inflation der Führungskraft deutlich unter der allgemeinen Inflation liegen sollte. Allerdings ist klar festzustellen, dass die Liquidität kurzfristig ein Problem darstellen wird: Der Verbrauch von 80.000 Euro jährlich ist zu hoch für die vorhandenen liquiden Mittel, wenn die Einnahmen wegfallen.
Wie viel Puffer sollte es sein?
Daher werden nach und nach Vermögenswerte verkauft werden müssen. Das Ergebnis davon betrifft aber weniger die Führungskraft selbst als vielmehr ihre Erben. Trotzdem hängt jeder Verkauf, insbesondere der illiquiden Vermögenswerte, vom Zeitpunkt ab: Ist ihr Wert gegenüber der aktuellen Betrachtung gestiegen oder gefallen?
Sind die Annahmen hinsichtlich der Inflation richtig und die Vermögenswerte bleiben konstant, wird die Führungskraft bis zum 90. Lebensjahr genügend Erträge erwirtschaften, um die fehlenden 2.700.000 Euro auszugleichen. Sie ist also finanziell unabhängig und einer frühen Rente steht grundsätzlich nichts im Weg.
Abschließend bleibt noch die Frage, wie groß der Puffer sein soll, um beruhigt schlafen zu können. Je nachdem, wie die Preise beim Verkauf der Vermögenswerte stehen, sollten es durchaus eine gute Million Euro beziehungsweise mindestens acht Jahre Ausgaben sein. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob das ausreicht und welchen Wert im Gegenzug die gewonnene (Frei-)Zeit hat. Mit 45 Jahren ist es kein Problem, noch fünf Jahre zu arbeiten, um dadurch den Puffer um 925.000 Euro zu vergrößern. Teilzeitarbeit in einer Führungsposition wird vermutlich schwer umzusetzen sein, bietet jedoch eine weitere Möglichkeit, den Übergang vom Erwerbsleben in die Rente entspannter und fließender zu gestalten.